11. November 2014


Offene Kommunikation, Teamarbeit und viel Herz - Kinderpalliativ-Team im Interview

Kinderpalliativ-Teams ermöglichen Familien ein Zusammenleben im häuslichen Umfeld trotz schwerer Krankheit


Kinder werden krank. Oder sind bereits mit Leiden geboren. Viele von ihnen werden wieder gesund. Doch manche durchschreiten zahlreiche Therapie-gepflasterte Wege, nur um an deren Ende herauszufinden, dass hier keine Heilung auf sie wartet. Diesen Kindern und ihren Familien bleibt die Möglichkeit einer palliativen Betreuung.


Aktion Lichtpunkt sprach mit Dr. med. Toralf Bernig, Kinderarzt und Palliativmediziner, und Annette Hentschel, Dipl.-Rehabilitationspädagogin mit Palliative Care-Ausbildung, über ihre Arbeit im „Kinderpalliativteam Clara“, einem Team zur spezialisierten, ambulanten palliativen Versorgung von Kindern in Halle (Saale).

Die Anfänge der ambulanten Kinderpalliativbetreuung in Halle waren 2006. Dr. Toralf Bernig und Annette Hentschel arbeiten seit vielen Jahren engagiert im „Team Clara“.
Die Anfänge der ambulanten Kinderpalliativbetreuung in Halle waren 2006. Dr. Toralf Bernig und Annette Hentschel arbeiten seit vielen Jahren engagiert im „Team Clara“.

Herr Dr. Bernig, erklären Sie uns doch bitte zunächst, was „palliativ“ bedeutet.

TB: „Palliativ“ bedeutet, dass man einen Patienten, der an einer nicht heilbaren Erkrankung leidet, so betreut, dass man für ihn eine optimale Lebensqualität sichert und speziell in der Kinderpalliativversorgung zudem die Lebensqualität der gesamten Familie.

 

Was macht eine Kinderpalliativversorgung im Gegensatz zur Betreuung von Erwachsenen aus?

TB: In der Kinderpalliativversorgung liegt der Schwerpunkt auf einer ambulanten Betreuung in der Häuslichkeit. Das heißt also, dass in der Versorgung auch immer die Familie mit dazugehört: während der Erkrankungsphase, während der Sterbephase und auch anschließend in der Trauerbegleitung über das Versterben des Kindes noch eine ganze Zeit hinaus.

Zudem gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Erkrankungen. Anders als bei den Erwachsenen stehen die Krebserkrankungen nicht unbedingt im Vordergrund, sondern es gibt viele, teilweise sehr seltene Erkrankungen, woran die Kinder im Kindes- oder im Jugendalter dann letztlich versterben. z.B. Stoffwechselerkrankungen, genetische Erkrankungen, oder Kinder, die zu früh, sehr unreif geboren sind. Es ist also ein sehr breites Feld von Erkrankungen bei denen oft der Umfang und die Dauer der notwendigen Palliativversorgung am Anfang der Betreuung gar nicht vorhersehbar ist.

 

Ambulante Betreuung meint, sie fahren zu den Patienten in die Familien –  und das tagtäglich?

TB: Das hängt davon ab, wie der Bedarf ist. Die Versorgungsaufgabe ist ja nicht nur die Symptomlinderung am Kind, sondern auch die Betreuung der ganzen Familie. Und aus dieser Tatsache heraus kommen dann auch die Aufgaben. Es kann also sein, dass mal das leidvolle Symptom der Schmerz ist, aber in der nächsten Woche ist das leidvolle Symptom, welches behandelt werden muss, ein familiäres Problem. Sie haben im Team verschiedene Mitspieler und so ist eben mal eine ärztliche Aufgabe primär, dann steht vielleicht eine psycho-soziale Betreuungsaufgabe im Vordergrund oder die pflegerische Versorgung. Und die Aufgabe des Teams ist es, diese Sache zu koordinieren.

 

Wer arbeitet denn in einem Palliativ-Team und wer gestaltet die Aufgaben?

TB: Im Team arbeiten Ärzte, Schwestern und psycho-soziale Mitarbeiter. Es wird gemeinsam überlegt: Was braucht speziell diese Familie? Und dann suchen wir Kooperationspartner, u.a. den Hausarzt, Pflegedienste, ambulanten Hospizdienste, Apotheken. Es ist das Ziel, für jeden Patienten ein individuelles Betreuungsnetz zu knüpfen, in dem er betreut wird und zuhause bleiben kann und nicht in ein Krankenhaus muss. Und das müssen Sie für jeden Patienten, der eigentlich rechtlich darauf Anspruch hat, flächendeckend im gesamten Land gewährleisten.

 

Das ist ein unwahrscheinlich logistischer und koordinatorischer Aufwand...

TB: Genau. Das ist ein große organisatorische und logistische Aufgabe diese Versorgung allen betroffenen Kindern und ihren Familien anbieten zu können. Und aus diesem Grund haben wir im Land Sachsen-Anhalt mit anderen Anbietern von Kinderpalliativbetreuung das Kinderpalliativnetz Sachsen-Anhalt gegründet. Das Ziel dieses Netzes ist es, auch in einem Land wie Sachsen-Anhalt mit wenig Einwohnern und großer Fläche, jedem Kind eine optimale Versorgung zu gewährleisten.

 

Sie haben es schon angesprochen, dass auch die Eltern im Fokus der Betreuung stehen – was brauchen Eltern in dieser besonderen Situation?

AH: Die Eltern brauchen Bestärkung darin, dass die von ihnen mitgetragene Entscheidung für eine palliativ-medizinische Betreuung richtig war. Das heißt, in erster Linie wird das gelingen, indem eine effiziente Symptomkontrolle stattfindet. Wenn das Kind Lebensqualität hat, werden die Eltern sich in ihrer Entscheidung gestärkt fühlen. Familienorganisatorisch sollte den Eltern der Rücken freigehalten werden. Unter Umständen brauchen sie Anleitung zur Pflege, viele Eltern wollen die Pflege ihres Kindes doch selbst übernehmen. Und die Eltern brauchen natürlich psychologischen Beistand, um mit Ängsten und all den Belastungen dieser Situation umgehen zu können.

 

Und das gewährleisten alles Sie, Frau Hentschel, als psycho-sozialer Dienst?

AH: Nein, das bewältigt das Team! Nehmen Sie z.B. die Pflege des Kindes. Sie ist kein ausschließlich pflegerisches Problem, sondern auch eine Frage der Belastbarkeit: Was kann diese Familie leisten, was will sie leisten, wo ist sie überfordert, wo muss etwas abgenommen werden? Und das ist letztendlich eine Teamleistung ,wenn wir die Eltern dazu beraten und betreuen. Und ebenso sind stützende Gespräche nicht ausschließlich ein Angebot des psychosozialen Mitarbeiters.

 

Wie wird denn mit den Kindern über ihre Krankheit und ihren möglicherweise bevorstehenden Tod gesprochen?

AH: Meine Erfahrung aus 20 Jahren Kinderonkologie ist, dass keins der Kinder die von den Eltern am meisten gefürchtete Frage ‚Muss ich sterben?‘ wortwörtlich stellte. Die Kinder brauchen, so ist unsere Interpretation, diese Frage nicht, weil sie – egal welchen Alters – ganz oft die Situation vielleicht sogar eher erfassen als jeder Professionelle. Und das Kind macht dann Gesprächsangebote eher über Umwege, seltener gegenüber den traurig erscheinenden Eltern, eher anderen Personen gegenüber, zu denen es Vertrauen hat. Auch wir sind gefordert, eine Atmosphäre zu schaffen, die dem Kind die Möglichkeit gibt, seine Fragen –  auf welchem Weg auch immer – zu stellen. Prinzipiell gilt, wenn der Patient fragt, dann traut er sich die Antworten zu.

 

Wie wird Abschied genommen? Innerhalb der Familien, aber auch zwischen dem Palliativ-Team und der Familie

AH: Je offener die Kommunikation innerhalb der Familie und je vertrauensvoller die Beziehung zum Team, desto eher kann der Abschied mit dem Patienten, innerhalb der Familie bzw. auch mit dem Team besprochen werden. Die Gestaltung des Abschieds etwa – hier im Sinne von Beerdigung – hat etwas Linderndes, denn man kann etwas tun, noch etwas "für das Kind" tun. Und das Besprechen der Beerdigung signalisiert: Es darf über das Kind gesprochen werden. Es lenkt den Fokus unter Umständen auch auf schöne Erinnerungen.

Ich höre immer wieder von verwaisten Eltern, dass nach dem Tod des Kindes sich Verwandte und Freunde oder Arbeitskollegen zurückziehen, weil sie die Betroffenheit und die Trauer der Eltern auf Dauer nicht aushalten oder nicht wissen, wie sie ihnen gegenübertreten können, was sie machen können. Was sind da Ihre Erfahrungswerte?

AH: Sorgen um die Familien müssen wir uns nicht machen, solange es etwas für das Kind zu tun gibt. Das endet dann ja meistens mit der Beerdigung, vielleicht noch mit dem Erstellen des Grabsteins, und dann passiert genau das, wonach Sie jetzt gefragt haben, dass dieser Rückzug beobachtbar ist, teilweise auch im erweiterten Familienkreis. Die Eltern haben das Gefühl, scheinbar gehen alle anderen zur Tagesordnung über. Das, was wir jetzt als „Team Clara“ bieten können, ist für Gespräche zur Verfügung zu stehen. Ob das nun am Telefon ist oder persönlich. Und unser Elternverein bietet eine Trauergruppe für die verwaisten Eltern von krebskranken Kindern an.

 

Was bedeutet es Ihnen, speziell in der Kinderpalliativversorgung zu arbeiten?

AH: Letztendlich ist es der größte Vertrauensbeweis, der uns gegeben werden kann – wir müssen bis zu dem Zeitpunkt sehr viel richtig gemacht haben, dass die Familie ihre Häuslichkeit für uns öffnet.

 

Wie professionalisiert man sich in diesen Bereichen?

TB: Neben den medizinischen und pflegerischen Dingen, geht es auch immer wieder darum, wie man selber damit umgehen kann, wie kriegt man Abstand, dass man auch immer wieder die Kraft hat, letztendlich loszugehen und der Familie zu helfen. Denn das ist auch ganz wichtig in der Palliativbetreuung, dass man auch Möglichkeiten für sich selber findet, das zu verarbeiten und dann letztendlich wieder Kraft zu schöpfen. Also nichts ist schlimmer, als den Eltern nicht mehr geben zu können, was sie eigentlich brauchen.

 

Wie geht man denn persönlich mit den emotional harten Aspekten der Arbeit nach Hause?

AH: Man kriegt die Tür unterschiedlich gut zu. Ja, es gelingt nicht immer, aber man kriegt es hin und schafft es, immer wieder die Kraft für eine neue Begleitung zu mobilisieren. Aber es muss, würde ich mich anschließen, auch das Hinterland stimmen. Das heißt, in dem Moment, in dem man persönlich belastet ist, wird es natürlich schwerer fallen, angemessen begleiten zu können und angemessen zu verarbeiten. – Sprechen hilft. Mit einer der Schwestern oder den ärztlichen Kollegen...

 

Werden Tod und Trauer im Medizin-Studium bereits thematisiert?

TB: Im Humanmedizinstudium hat sich in den letzten Jahren relativ viel geändert. In den neuen Studienabläufen für Medizinstudenten ist die Palliativmedizin integriert.

AH: Und sie wird als Querschnittsfach gelehrt, das heißt nicht nur das Medizinische, sondern auch ethische und rechtliche Probleme, Psycho-Soziales werden behandelt. Neben Vorlesungen und Seminaren werden spezifische Gesprächssituationen trainiert.

 

Was muss man noch mitbringen, um diese Arbeit zu machen?

AH: Toleranz. Zuhören können.

TB: Das ist ein ganz wichtiger Fakt, das Zuhören, weil man ja Hausbesuche macht, auf die Eltern trifft. Man sieht zum Einen den Patienten, aber zum Anderen berichten einem ja auch die Eltern viel. Da muss man dann auch gucken, wo liegt jetzt gerade der Schwerpunkt…

AH: Und: „Was ist zwischen den Zeilen gesagt?“

 

Und mir fällt auf, dass Sie beide so positiv strahlen!

Beide: (lachen) Naja, nicht immer, aber wir bemühen uns! – Unser Chef sagt immer, wir müssen nach außen ausstrahlen, also machen wir das!

 

Was wünschen Sie sich für die Ausübung Ihres Berufs – wo mangelt es da vielleicht an etwas, von Seiten des Gesetzgebers aus, aber auch von Seiten der Gesellschaft, wenn es um den Tod von Kindern geht?

AH: Die Möglichkeit,dass die Eltern sich finanziell abgesichert in Ruhe um ihr Kind kümmern können, ohne sich auf diesem Gebiet Sorgen machen zu müssen.

TB: Und dass die Kostenträger erkennen, dass das eine wesentliche Versorgungsaufgabe ist und dass diese Leistungen auch entsprechend vergütet werden, dass eben solche ambulanten Teams in der Breite, wie sie notwendig sind, und auch flächendeckend, wie sie notwendig sind, kosteneffizient arbeiten können. Das ist eben häufig nicht so einfach.

Wir bedanken uns für das Gespräch!

 

 

Text, Interview & Foto: Anne Scheschonk/Aktion Lichtpunkt

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