30. Dezember 2015


Trauerzentrum Serafim – Wie aus Betroffenheit Profession wird

 

Gotha in Thüringen, früher herzogliche Residenzstadt, wirkt heute eher etwas verschlafen. Noch dazu ist es Dezember, es ist grau, es weiß nicht so recht, ob es regnen will oder nicht. Dennoch haben wir, das Aktion Lichtpunkt-Team, uns auf den Weg gemacht und biegen nun ein, auf den Hauptmarkt mit seinen Prunkbauten und staunen. Gotha ist für uns interessant und der Grund dafür liegt genau hier in einem der schönsten Gebäude am Platz. Dort warten bereits zwei besondere Menschen auf uns: Conny und Detlef Creutzburg, Lichtpunkt-Träger der ersten Stunde. 

 

Das Ehepaar hat etwas auf die Beine gestellt, was sie für ihr Leben so nicht geplant hatten und jetzt doch so viel Sinn ergibt: Sie leiten ein Trauerzentrum, speziell für Kinder und Jugendliche. Zusammen mit anderen Engagierten, die die Notwendigkeit einer professionellen Trauerinstanz in Gotha und Umland erkannten, gründeten sie 2013 diesen gemeinnützigen Verein. Serafim haben sie ihn genannt. 

 Ein Ort zur Aufarbeitung von Trauer 

Zentrum ist ein großes Wort – die Räumlichkeiten sind eher klein: ein Gruppenraum, ein Büro, WC über den Flur. Doch sind sie hell, gemütlich, freundlich – wie die Creutzburgs. „Wollen wir Du sagen? Macht es doch einfacher!“, Conny Creutzburg lacht. Auf dem Tisch im Gruppenraum brennen Kerzen, es ist weihnachtlich dekoriert. „Hier im Großraum gab es doch nichts,“ beginnt die 50-Jährige sofort zu erzählen, während sie uns einen Kaffee einschenkt. „Eine Selbsthilfegruppe, ja, aber keine Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, keinen Ort, wo Trauer richtig aufgearbeitet werden kann. Deswegen machen wir das jetzt.“ 

 

In ihrem Hauptberuf leitet Conny Creutzburg ein Kleinbusunternehmen, ihr Ehemann Detlef ist Polizeibeamter. Die Frage liegt also auf der Hand: Wieso überhaupt ein Trauerzentrum? Noch dazu ehrenamtlich, zusätzlich zum Beruf, in kompletter Eigenregie. Der Grund ist ein sehr persönlicher, ein schmerzvoller: Ihr Sohn verunglückte 2007 tödlich bei einem Autounfall. Er wurde 19 Jahre alt. „Über alles, was Stefan betrifft, können wir offen sprechen,“ sagt Detlef Creutzburg mit fester Stimme, „nur das Reden hilft.“

 Völlig allein

 

"Also reden wir. Es hatte geregnet, den ganzen Tag schon. Stefan hatte seine Freundin besucht. Er  befand sich auf dem Weg nach Hause, als er von der Straße abkam und sein Auto gegen einen Baum knallte. Er wurde in die Notaufnahme gebracht." Conny und Detlef Creutzburg erhielten die Nachricht vom Unfall von einem Polizeikollegen. Sie eilten in die Klinik und als hätte Stefan noch auf seine Eltern gewartet, machte er seinen letzten Atemzug, als sie das Zimmer betraten. 

 

Stille am Tisch im Gruppenraum mit der brennenden Kerze, wo wir eben noch so herzhaft lachten. Es sind unendlich traurige Geschichten wie diese, die uns in der Aktion Lichtpunkt begegnen und immer wieder aufs Neue sprachlos und betroffen machen. Und es sind die Geschichten, die uns dazu bewegen, den verstorbenen Kindern und ihren Angehörigen einen Lichtpunkt zu setzen.

 

Doch was dann an diesem schwarzen Tag geschah, ist der eigentliche Nährboden für die Motivation des Ehepaars, sich aktiv in die Trauerbegleitung von Familien einzubringen. Sie fühlten sich allein, besser:  allein gelassen, in ihrem Schock, ihrem Schmerz und ihrer Unwissenheit über die nächsten Schritte. Der Abschied von ihrem Sohn erfolgte schnell, fast wie zwischendurch, in einer Nische auf dem Flur mit dem Krankenhauspersonal im Nacken. „Ich hatte den Eindruck, die haben nur darauf gewartet, dass wir endlich gehen, damit sie aus der Situation raus kommen. Nach dem Motto: Wir müssen die schnell loswerden, wir wissen nicht, was wir mit denen machen sollen. Total fürchterlich,“ erinnert sich Conny Creutzburg aufgebracht. Dieses Gefühl hat sich eingebrannt. „Das hat auch unserer Tochter die Möglichkeit geraubt, sich von ihrem Bruder zu verabschieden,“ fügt Detlef Creutzburg hinzu. Es gab keinen Beistand, keinen Raum, keine angemessene Sprache zwischen Krankenhauspersonal und der Familie. Aus dieser Erfahrung, dem immensen Druck dieses Gefühls scheinen die Creutzburgs heute noch ihre gesamte Energie für ihre anspruchsvolle Arbeit zu schöpfen. 

 Aus Trauer wird Profession 

 

Es ist nicht ungewöhnlich – auch unsere Erfahrungsberichte in der Aktion Lichtpunkt zeigen es immer wieder – , dass Menschen, die einen solchen Verlust erlitten haben, später ihre eigenen  Trauererfahrungen als Grundlage für den Schritt in den Beruf des professionellen Trauerbegleiters nehmen. Meistens bleiben sie ihrem Trauerkontext verhaftet, wie etwa verwaiste Eltern, die ihre Erfahrungen wiederum an Eltern weitergeben, die auch ein Kind verloren haben. Anders die Creutzburgs: „Ich hatte dann immer unsere Tochter im Kopf – sie war mit 22 Jahren zwar schon eine junge Erwachsene und sie hatte ihren Freundeskreis, mit dem sie reden konnte, aber ich bin skeptisch, wie hilfreich das war. Ich habe mir gedacht, Erwachsene finden, wenn sie wollen, irgendwo Hilfe. Es gibt Selbsthilfegruppen, es gibt Vereine, für verwitwete, für verwaiste Eltern. Aber wo bitte bleiben die Kinder?“, erklärt Conny Creutzburg ihre Entscheidung zuerst eine Ausbildung als Familienbegleiterin zu machen und sich anschließend auf die Trauerbegleitung bei Kindern und Jugendlichen zu spezialisieren. 

Die Creutzburgs haben viel Öffentlichkeitsarbeit für ihren noch jungen Verein und ihre Angebote gemacht. Mittlerweile gibt es zwei Kindertrauergruppen für die Altersgruppen 6-13 Jahre und ab 14 Jahre, die noch von Conny Creutzburg allein geleitet werden. Weitere Mitglieder des Vereins, darunter ihr Mann Detlef, wollen ebenfalls Ausbildungen zu Trauerbegleitern machen. Der Bedarf ist da. Denn aus der einstigen Fokussierung ausschließlich auf Kinder und Jugendliche wurde eine Öffnung der Trauerarbeit auch für Erwachsene. „Irgendwann sprach mich eine Frau an, die ihr Kind aus der Trauergruppe abholte. Sie sagte 'Also, meinem Jungen geht es richtig gut. Der spricht wieder, der lacht wieder. Das ist 'ne ganz tolle Arbeit, die ihr macht. Aber was ist mit mir? Wer kümmert sich um mich?',“ so Detlef Creutzburg. 

Trauer + Arbeit = Trauerarbeit  

Also dann doch ein Trauerzentrum für alle? Natürlich. „Wie können wir Kinder auf ihren Weg bringen, während ihre Eltern hinterher hinken?“, sind sich beide einig. Auch andere Personen, die Rat suchen, sind jederzeit willkommen – per Telefon, in Einzelberatungen oder in der monatliche Trauergruppe. Aber genau wie die Kinder müssen die Erwachsenen hier bestimmte Themen bearbeiten. „An unseren Abenden geht es um Trauer – einfach nur hinsetzen und reden, tun wir nicht. Wir wollen ja die Trauer aufarbeiten. Wir wollen lernen, damit umzugehen, damit zu leben. Und nicht um ein Mal in der Woche uns gegenseitig zu sagen, wie schrecklich alles ist und wie traurig wir sind. Ja, es ist traurig, was wir alle erlebt haben. Aber es gibt ja auch noch was anderes,“ erklärt Detlef Creutzburg ihren strikten Ansatz. Darüber hinaus begleiten sie Familien in ihren schwersten Stunden, erledigen zusammen mit ihnen das Behördliche, führen Gespräche mit Bestattern, zeigen Möglichkeiten auf, von denen die Trauernden oft keine Ahnung hatten – so wie sie einst. 

Wie wichtig Beistand, Zeit und Raum für den persönlichen Trauerweg und die individuelle Trauerarbeit sind, haben die Creutzburgs ebenfalls am eigenen Leib erfahren. Ein Jahr nach dem Tod ihres Sohnes besuchte das Ehepaar gemeinsam ein von der Magdeburger Regionalstelle des VEID e.V.* organisiertes Trauerwochenende. Ein Schlüsselerlebnis. „Ich war skeptisch, aber auch ich habe schließlich gemalt“, lacht Detlef Creutzburg, „und einen Brief an meinen Sohn geschrieben.“ Conny Creutzburg hatte damals noch nicht über den Tod und die Umstände danach sprechen können. Im Trauerwochenende bekam sie Methoden an die Hand, um über das Unaussprechliche zu reden. „Es ging an die Substanz. Doch man nimmt viel mit. Man fängt an, anders zu denken. Und ich konnte dann auch mit den Jahrestagen umgehen, Rituale schaffen, wie man diese Tage leben und gestalten kann,“ ergänzt Conny Creutzburg. Alles, was sie nun in den von ihr geleiteten Trauergruppen durchführt, hat sie vorher selbst probiert und muss sie überzeugt haben, sonst wendet sie es nicht an. Das macht ihre Arbeit glaubwürdig und effektiv. Heute schickt sie trauernde Menschen mit einem ordentlichen Grundgerüst auf den Trauerweg. „Wenn die Trauer von Menschen richtig begleitet wird, dann ist später auch kein Therapeut nötig,“ so Detlef Creutzburg. Ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung Krankenkassen.

Und so haben Conny und Detlef Creutzburg eben doch ein Zentrum geschaffen: einen Ort für ihre Region, an dem Trauer bearbeitet werden kann. Sie sind in kürzester Zeit eine zentrale Anlaufstelle für alle geworden, die Hilfestellungen im Kontext Trauer brauchen. Uns wird klar, dass ihre eigenen Erfahrungen, den Entschluss in ihnen reifen ließ, sich selbst zu professionalisieren. Aber es sind  neben den negativen Erlebnissen genauso die positiven, nämlich die, selbst eine professionelle Trauerbegleitung erfahren zu haben, die dabei ins Gewicht fallen. Prozesse in Ruhe wirken zu lassen, zurück ins Leben zu finden, fundierte Ausbildungen zu genießen, bevor sie anderen Hilfe angedeihen lassen – das sind die Kriterien, denen die Creutzburgs folgen und die sie heute zu den engagierten und wirkungsvollen Trauerbegleitern machen, die sie sind. 

 

 

*Bundesverband Verwaister Eltern und trauernder Geschwister in Deutschland e.V.

Wir sind sehr dankbar für diesen angenehmen und inspirierenden Besuch im Serafim – Kinder- und Jugendtrauerzentrum Gotha e.V. und Euren herzlichen Empfang, liebe Conny und Detlef Creutzburg! 

Weiterführender Links

Betroffene Menschen und Rat Suchende können sich hier informieren:

 

www.kindertrauer-serafim.de

 

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