30. November 2014


Tröstlich ist das Gefühl,

dass ich meinen Sohn spüren kann

von Anonym

(Interview zum Thema "Abschied")

 

Teil 1: Unsere Familie fiel komplett auseinander

​Mein Sohn kam mit einem "normalen" Fieberkrampf auf die Intensivstation und wurde dort über das Wochenende in ein künstliches Koma gelegt. Bei jedem Aufwachversuch begann er aber erneut zu krampfen und konnte deshalb nicht aus dem künstlichen Koma erweckt werden. Nach vier Monaten Vollnarkose war sein Köpfchen von den vielen Medikamenten und den trotz der Vollnarkose anhaltenden Krämpfen zerstört. Irreversibler Gehirnschaden.

Nach vier Monaten wussten wir, dass er nie wieder gesund werden würde. Auch würde er nie wieder das Bewusstsein erreichen. Und als er dann zur Reha verlegt wurde, erfuhren wir, dass dies ein palliativer Befund ist. Ebenso sagte man uns, dass Kinder wie er irgendwann an den Spätfolgen der Erkrankung, z.B. einer Lungenentzündung, versterben würden. Seine Überlebenszeit wurde uns mit etwa einem halben Jahr genannt.


Zu diesem Zeitpunkt war er gerade vier Jahre alt – innerhalb von wenigen Monaten ist aus einem gesunden Kind ein sterbendes Kind geworden.


Mein Sohn hatte von all dem durch seinen Zustand ja Gott sei Dank keine Ahnung. Wir jedoch waren alle geschockt und entsetzt. Eine einfache Grippe? Ein Fieberkrampf? Tödlich? Unsere Familie fiel dadurch komplett auseinander. Zuerst blieben die Großeltern, dann die Tanten und Onkel und zum Schluss fast alle Freunde fern. Keiner schaut sich gerne ein Kind an, dass auch zuhause wie auf einer Intensivstation lebt: Beatmung, Absaugung, künstliche Ernährung, Pflegedienst...

Wie haben wir uns auf den Tod unseres Kindes vorbereitet? Ich habe viel gelesen: Bücher von Raymond A. Moody, Bernhard Jacoby, Dr. Kübler-Ross. Wir hatten Hilfe über den Maltheser Kinderhospizdienst – auch für meine Tochter, die nach der Erkrankung meines Sohnes geboren wurde und ihren Bruder niemals gesund erlebt hatte. Außerdem nutzen wir die 28 Tage Kinderhospiz im Jahr – zur Entlastung und um gemeinsam "Urlaub" zu erleben. Das waren die schönsten Momente für uns als Familie. Besonders für meine kleine Tochter. Und allein schon durch die Pflege meines Sohnes – trotz der Hilfe und Unterstützung eines Pflegedienstes – war ich mit meiner kleinen Tochter so eingespannt, dass ich gar nicht zum Nachdenken kam. Ich funktionierte lediglich nur noch. 


Nebenbei bauten wir ein Haus, um unseren Sohn überhaupt bei uns zuhause haben zu können. Ein Haus mit Intensivstation! Als Fahrzeug bekam ich für meinen Sohn einen Rettungswagen über Spendenbasis, um überhaupt mit ihm raus zu können. Denn er brauchte einfach viel zu viele Geräte. Außerdem musste ja auch noch die Sitzschale mit. Mit einem "normalen" Rollstuhl waren wir nicht zurecht gekommen. Ich hätte niemals gedacht, dass ich das schaffe, aber letztendlich bekamen wir von den Stiftungen so viel Unterstützungen, dass nach drei Monaten so ein Auto für ihn zur Verfügung stand. 

Als mein Sohn starb, lag er auf einer Intensivstation. Eine Lungenentzündung hatte ihn dort hin gebracht und wir hatten uns nach fünf Tagen für den palliativen Weg entschieden. Gemeinsam mit den Ärzten und dem Palliativ-Team.


Keine Antibiotika-Gaben mehr. Stattdessen wurden bei ihm Morphin und Valium angesetzt, um ihn schmerz- und angstfrei zu belassen. Ich war die ganze Zeit über bei ihm. Wir hatten ein Einzelzimmer und der Monitor wurde auf lautlos geschaltet. 

Ich durfte mich zu ihm ins Bett legen, um ihm ganz nahe zu sein.


Die Ärzte und Pfleger waren sehr liebevoll und sie ließen uns in Ruhe. Der Monitor konnte von den Schwestern auch von draußen kontrolliert werden und deshalb musste niemand zu uns ins Zimmer, um nach den Werten zu gucken. 


Als mein Sohn ins Finalstadium kam, war dies für uns nicht ersichtlich, da wir den Monitor nicht sahen. Nur die Null-Linie – der Herzstillstand – der ertönte mit einem Gongschlag. Und dabei bin ich zu Tode erschrocken. Denn der Sterbevorgang war sehr, sehr ruhig und entspannt bei meinem Sohn gewesen. Es war jedoch kein Auslaufen der Werte, kein langsamer werden des Atmens. Es war einfach Schluss – von jetzt auf gleich. Einatmen-Ausatmen-Stopp... Als wir den Sauerstoff abnahmen, dauerte es noch knapp drei Stunden, bis alle Organe ihren Dienst einstellten. 

Mein Kind starb in meinen Armen auf der Intensivstation. Sein Vater saß auf der anderen Seite des Bettes und hielt seine Hand. Der letzte Atemzug und dann ein sofortiges Blass werden und Abkühlen der Körpertemperatur. Ich verließ fluchtartig sein Zimmer und brach zusammen.


Nach zwei Stunden durften wir unseren Sohn mitnehmen und in der Einrichtung, in der er die letzten Monate vor seinem Tod lebte, auch aufbahren. Mein Exmann und die Pflegedienstleitung der Klinik holten ihn einfach mit der Duschliege ab und fuhren ihn rüber in sein Zimmer. Die Einrichtung und die Intensivstation liegen keine 300 m auseinander. 

Meine Tochter verabschiedete sich dann am nächsten Tag von ihrem Bruder, der angezogen in seinem Bett unter seiner Zudecke friedlich und schön lag. Sie war etwas irritiert, weil er so kalt und steif war. Aber der Satz "Schatzilein, Dein Bruder hatte jetzt so viel Fieber –  jetzt mag er es ein bisschen kühler" – der hatte sie beruhigt. 

Teil 2: Emotional wie mit ihm gestorben

Mein Sohn war insgesamt zwei Tage und Nächte in der Einrichtung aufgebahrt, bevor er vom Bestatter abgeholt wurde. Es war eine Frau, die ihn holte – noch sehr jung und sehr liebevoll. Ich war nicht dabei, konnte es nicht mehr aushalten. All die Kraft, die ich bis zu seinem Tode aufrecht erhalten konnte, war wie weggeblasen. Mein Exmann kümmerte sich um das Einsargen und den Transport zur Aussegnungshalle.

Die Beisetzung war eine Woche später und ich brach am Grab vor allen Menschen zusammen, weil ich weder geschlafen, noch gegessen oder getrunken hatte. All das ging mir so nahe, dass nichts in mir drinnen blieb und ich sogar einen Schluck Wasser wieder erbrach. Körperlich war ich vollkommen im Ausnahmezustand. Emotional wie mit ihm gestorben. Vollkommen gefühllos.

Von meinem Exmann lebte ich getrennt und meine Tochter war die Tage bis zur Beisetzung auf Grund der Aufenthaltsregelung gerade bei ihrem Vater. Ich war vollkommen allein und wollte auch niemanden sehen. Ich verbrachte die Tage bis zur Beisetzung im Schock und in der Aussegungshalle, wo ich stundenlang wortlos vor seinem Sarg die Totenwache hielt.

Teil 3:

Mama zusammenbrechen zu sehen, war ein Schock für meine kleine Tochter

Als mein Sohn starb, ging ich sofort in die Verweigerung. Ich wollte mir einfach nicht das Gefühl kaputt machen, wie es war, ihn lebend gepflegt, gewaschen und gewickelt zu haben. Wie sich sein kleiner Körper warm und doch lebend anfühlte. Deshalb wuschen die Krankenschwestern der Einrichtung ihn nach seinem Tod und auch das Aussuchen der Bekleidung für den Sarg überließ ich ihnen.


Ich hielt bereits in den zwei Tagen in der Einrichtung noch in der ersten Nacht die Totenwache. Die formalen Schritte unternahm mein Exmann, weil ich einfach vollkommen starr und teilnahmslos war. Fünf Tage und Nächte hatte ich ihn auf der Intensivstation begleitet. Jetzt war ich einfach vollkommen am Ende meiner Kräfte. Innerlich war ich mit ihm gestorben.

Ich habe nichts ausgesucht – weder den Sarg, noch die Bekleidung. Ich bestand lediglich darauf, dass er sein Kopfkissen und seine Zudecke sowie einige ihm wichtige Kuscheltiere mit in den Sarg bekam. Zusammen suchten wir noch auf dem Friedhof die Grabstelle aus. Alles andere machte mein Exmann. 


Eine Trauerfeier gab es nicht, da mein Exmann und ich im Scheidungskrieg waren. Und so ging ich lediglich mit meinen Bekannten zum Kaffee trinken. Das Lokal wählten wir spontan aus. Ich habe seither über diese Trauerfeier nie mehr nachgedacht. 


Ich wünschte mir, dass es niemals so ein Trennungsdisaster gegeben hätte. Hätte gern meine Tochter bei mir gehabt. Aber als ich zusammenbrach und mein Kind vor Angst wie abgestochen schrie, da hat man sie vom Friedhof weggebracht und ich sah sie an diesem Tag nicht wieder. Die Mama zusammenbrechen zu sehen, war ein schwerer Schock für meine kleine Tochter, unter dem sie heute noch leidet. 

Tröstlich war für mich lediglich das Gefühl, meinen Sohn energetisch zu spüren. Was ich auch heute noch tue. Vielleicht kann man das mit einem Schutzengel oder seiner Seele erklären. Aber wir hatten uns kurz vor dem Ausbruch seiner Erkrankung versprochen, immer aufeinander zu achten und füreinander da zu sein. 

Am schmerzlichsten war für mich die Tatsache, dass ich am Tag seiner Beisetzung meine Tochter nicht haben durfte. Und wäre mein Sohn eine Urnenbeisetzung gewesen (er war eine Erdbestattung, weil wir unserer Tochter nicht erklären wollten, dass man Menschen nach dem Tode auch verbrennen kann) – dann hätte ich seine Urne lieber bei mir als im Erdloch. Deshalb gibt es bei mir auf dem Balkon einen großen Engel aus Granit, der vorher ein Jahr auf seinem Grab stand. Und neben diesem Engel steht eine Laterne, in dem immer eine Kerze brennt. 

Was mir jedoch noch positiv und sehr stützend in Erinnerung ist: Eine oder zwei Wochen nach der Beisetzung fand in der Einrichtung, in der er die letzten Monate vor seinem Tod lebte, eine Trauerfeier statt, an der nur ich und meine Tochter teilnahmen. Alle Krankenschwestern und Kinder legten eine Blume auf einem Tücherkreis nieder... Mit Wünschen, die sie ihm in den Himmel schickten. Auch brannte dort eine Kerze für ihn – 40 Tage lang – mit einem für ihn ausgelegten Kondolenzbuch.


Mein Sohn war insgesamt sieben Jahre lang sehr krank. Und die Menschen aus unserem Leben vor seiner Erkrankung hatten sich alle fast vollständig zurück gezogen. Den Rest erledigte noch dieser schreckliche Rosenkrieg. In unserem Ort hätte wohl niemand auch nur eine Zeile in so ein Kondolenzbuch eingetragen. Deshalb war es für mich in der Nachschau sehr tröstlich, dass es dort in der Einrichtung Menschen gab, denen mein Sohn und auch ich sehr wichtig waren. Und die ihre Trauer und Verzweiflung über seinen Tod auch durch liebevolle Worte in diesem Kondolenzbuch Ausdruck gaben.

Teil 4: Noch heute fühle ich mich amputiert

Nach der Trauerfeier ging ich alleine nach Hause und habe mich eingeschlossen. Ich konnte nicht schlafen und verbrachte die Nacht auf dem Balkon und damit, in den Himmel zu starren.

Das erste halbe Jahr ging ich täglich zum Grab und es war für mich unerträglich, nicht dort hin zu können oder dürfen. 

 

Ich hätte mir gewünscht, dass die Menschen einfach an meiner Seite geblieben wären, vielleicht auch wortlos. Aber in dem Verständnis, dass der Tod eines Kindes das Schlimmste ist, was einem widerfahren kann. Noch heute fühle ich mich amputiert. Und wenn die Anderen auch immer sagen: Nun langsam muss es mal gut sein... Ein Mensch der ein Bein verloren hat, wird dieses Bein immer vermissen - keine Zeit der Welt kann ihm das Gefühl geben, ein vollständiger Mensch zu sein. Denn ein Mensch hat nun mal zwei Beine und nicht nur eins! 

 

Allerdings hatte ich drei Monate vor dem Tod meines Sohnes eine Arbeit gefunden und ich ging auch eine Woche später wieder arbeiten. Mein Arbeitgeber gestattete mir, jederzeit und ohne lange Worte meinen Arbeitsplatz verlassen zu dürfen, für Tage, wenn es von mir aus sein musste – und so schaffte ich es weiterhin, im Berufsleben zu bleiben. Meine Arbeit und meine Tochter waren die einzigen Dinge, die mich am Leben hielten und mir den Sinn gaben, weiter zu existieren.


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Wir danken von Herzen für den ergreifenden Artikel! 

Es sind durchaus klare Worte und auch aus diesen können wir wieder viel mitnehmen und voneinander füreinander lernen! 


Fehlt Ihnen ein Zeichen zur Anteilnahme? Tragen Sie Ihren Lichtpunkt. Setzen Sie Ihr Zeichen!

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