04. November 2015


Mottis Weg zu den Sternen

von Kerstin Nishen

(Interview zum Thema "Abschied")

 

Dann gibt es nur noch ein Davor und ein Danach


Ich erzähle Euch von meiner Tochter Julia, genannt Motti, meinem einzigen Kind, das nach sechs Jahren in unseren Armen gestorben ist. Julia war schwerbehindert mit unklarer Grunderkrankung. Wir waren von den sechs Jahren bestimmt fünf einhalb Jahre im Krankenhaus. Das letzte Jahr am Stück auf diversen Intensivstationen wie Wiesbaden, Mainz und Mannheim. Zu guter Letzt mussten wir einsehen, dass wir einen Kampf gegen multiresistente Keime nicht gewinnen können und durften die letzten drei Wochen im Hospiz mit ihr erleben. Das war nur die Kurzfassung, denn all unsere sechs Jahre Krankenhauserlebnisse niederzuschreiben, würde hier den Rahmen sprengen.


Am 01.Mai 2014 um 02:22 Uhr hat sich unsere Motte auf den Weg zu den Sternen gemacht. Es war ein harter Kampf für sie und ich bin so stolz, dass diese kleine Motte so tapfer war in all den Jahren ...


Als wir nach einem Jahr auf den diversen Intensivstationen in Mannheim, Wiesbaden und Mainz stets immer wieder aufs Neue um Mottis Leben kämpfen mussten, wurden wir nach Mannheim zurückverlegt. Wir dachten, wir hätten das Schlimmste überstanden. Aber ein Gespräch mit unserem Arzt eröffnete uns die plötzliche Tragweite des momentanen Zustands. Motti hatte mehrere multiresistente Keime, gegen die kein Medikament mehr half. Der Pseudomonas (Keim) tobte in ihrer Lunge und war nicht einzudämmen. Nach sehr vielen Gesprächen wurde uns bewusst, dass wir wohl am Ende des Weges angekommen waren. Wir durften mit Motti ins Kinderhospiz Sterntaler nach Dudenhofen. Der Abschied von der Station war tränenreich und erst viele Tage später war uns klar, dass wir mit ihr hier niemals mehr herkommen würden. Die Ärzte und Schwestern, die unsere Jule sechs Jahre lang betreut hatten, nahmen Abschied. Manche zögerten es bis zu unserem geplanten Krankentransport heraus – um sich dann zügig und weinend zu verabschieden.



Sie machte ihre letzten Atemzüge – und weg war sie

 

Am 30.04.2014 ging es der Motte nicht wirklich gut.
 Der ganze Tag war schon komisch irgendwie. Der Himmel hatte eine eigenartige Farbe, die Luft war schwül und es roch nach Regen. Ich musste mittags nach Hause, weil der Mann zum Rauchmelderüberprüfung kam, aber irgendwie hatte ich kein gutes Gefühl … 

 

Das sagte ich auch zu Freunden. Ich fuhr nach Hause mit totaler Unruhe in mir. Ich ging früh ins Bett, aber an Schlaf war nicht zu denken. Als mir nachts Mottis Papa Chris ein Video von der Motte schickte, habe ich es mir nicht einmal angesehen. Ich hörte, dass eine Nachricht kam, stand auf, zog mich an und setzte mich ins Auto. Es regnete in Strömen. Er schrieb nur, “Fahr langsam, ich sag Dir wann Du rasen musst.”

 Als ich ankam, wartete die Schwester, die für Jule zuständig war, mit der Schwester, die für zwei andere Kinder zuständig war, schon auf uns. Ich kam rein. Chris lag mit der Motte im Bett und es bedurfte keiner Worte. Ich sah, wie schlecht es ihr ging. Jeder Atemzug wurde zur Qual. Wir streichelten sie, redeten mit ihr, zu viert. Jeder war an ihr und ich kam mir fast deplatziert vor … Aber ich war froh, nicht alleine zu sein. In all den Jahren, in denen es so viele Momente gab, in denen es ihr schlecht ging, wusste ich doch, dass dies dieser eine Moment war, vor dem wir uns sechs Jahre lang gefürchtet hatten. Ich rief meine Freundin Katrin an und sagte ihr “Motti stirbt ...” Zwanzig Minuten später war sie da … Jule bekam nun schon alle 15 Minuten Morphium. Es kam mir vor, als wäre es alle 2 Minuten – so flog die Zeit. Die Schwester meinte, ob wir ihr nicht die Sauerstoffbrille abnehmen wollten, damit das CO2 im Körper bleibt und sie sich nicht noch länger quälen muss. Denn der Sauerstoff kam schon lange nicht mehr da an, wo er ankommen sollte. Ich musste erst einmal darüber nachdenken. Schließlich habe ich sie ihr doch abgenommen – sie hasste die Brille sowieso ...

 

Jule atmete schwer ... Es tat so unendlich weh, ihr nicht helfen zu können. Ich habe innerlich alles zu ihr gesagt, was sie noch wissen sollte. Und dann hab ich ihr gesagt, dass es okay wäre, wenn sie keine Kraft mehr hat.

 

Dann machte sie ihre letzten Atemzüge und weg war sie … Ich sah den Brustkorb, der sich auf einmal nicht mehr hob und senkte. Ich schaute instinktiv auf die Uhr: 02:22Uhr. 

Ich musste erst einmal raus. Es hatte aufgehört zu regnen und die Luft war klar. Wir standen draußen wie ein Haufen Elend. Katrin, Chris und ich. Schwester Gaby wich nicht von ihrer Seite. Sie hielt die ganze Zeit ihre Hand, redete mit ihr.

 

Danach haben wir sie gemeinsam angezogen, frisch gemacht, Kerzen wurden angezündet, Blumen in eine Schale gelegt. Es kam mir alles wie in einem Film vor. Ich sah zu, wie dieses vom Fieber erhitzte Kind von Minute zu Minute blasser wurde, all ihr Leben aus ihr wich. Das war schlimm …

 

 

Die restliche Zeit der Nacht saßen wir im Thekenbereich des Hospizes. Meine Motti war nicht mehr da. Nur ihr Körper lag da. Wir riefen die Omas und Opas von Motti an, damit sie sich verabschieden konnten und warteten darauf, dass es hell wurde. Irgendwann kam dann auch der Notarzt, um den Tod zu bescheinigen. Mir wurde kotzübel bei dem Gedanken. Um 10 Uhr fuhr ich nach Hause. Und ich wunderte mich, dass sich die Welt weiterdrehte und der Tag begann …

Motti ist tot


Ich hielt noch an einer Tankstelle, um Zigaretten zu kaufen. Ich möchte nicht wissen, was der Kerl in der Tankstelle gedacht hat, als ich so da stand, mit Liddeckeln, die so groß wie Wagenräder waren, roten Augen und zerzausten Haaren. Es war mir auch egal.


Zu Hause angekommen habe ich geheult wie ein Schlosshund. Dreißig Minuten. Dann setzte ich mich an den PC. Ich wusste weder, was ich tun, noch wie es weitergehen sollte. Ich fing an, unseren Freunden, Wegbegleitern, Bekannten zu schreiben, dass Motti nun tot sei. Und ich dachte wirklich, ich verarsche mich gerade selbst. Motti tot? Nein, das muss ein Irrtum sein! Ich konnte nicht wieder ins Hospiz, denn dort war ja nur noch die Hülle von Motti. Ich wollte diesen Ort meiden. Schlafen ging nicht, habe es auch nicht versucht. Ich war wie bei Mottis Geburt hellwach. Die Schwestern im Hospiz sagten, es gäbe die Möglichkeit, sie dort drei Tage aufzubahren. Aber das konnte und wollte ich nicht. Chris blieb die ganze Zeit im Hospiz, war immer wieder bei ihr, hat mit ihr geredet. Seine Familie war da, hat sich verabschiedet und ein Laken beschriftet. Ich war zuhause. So unterschiedlich trauern die Menschen. Ihm gab es Kraft, ich hatte meinen anderen Weg. 


Der Bestatter hatte sich für den nächsten Tag angemeldet. Ich ging erst am 02.05.14 wieder ins Hospiz. Um 10 Uhr sollte der Bestatter kommen, musste den Termin aber auf 14 Uhr legen. Nun saßen wir da. Katrin, Chris und ich. Ich wollte nicht bis 14 Uhr im Hospiz warten, also fuhren wir nach Speyer und zündeten im Dom genügend Kerzen an, damit Motti den Weg zu den Sternen auch findet. Es war alles komisch. Ich wusste weder, was ich denken, noch was ich fühlen sollte. Man fühlt sich so, als ob jemand die Pausen-Taste gedrückt hält. Alles steht still für dich, die Welt aber dreht sich weiter … Ich kam mir vor wie in Watte gepackt. Bis heute.


Der Bestatter kam, um Motti abzuholen. Ich verabschiedete mich und ging raus. Ich wollte nicht mitansehen, wie zwei fremde Männer mein Baby in eine Holzkiste legen und den Deckel zumachen. Das war die schlimmste Vorstellung der Welt für mich. Als der Bestatter weg war, trat ich ins Zimmer und das Bett war leer. Dieser Augenblick war so schmerzhaft! 


Wir fingen dann irgendwann an, alle Sachen von ihr zu packen. Es tat so unglaublich weh! Ich packte das ganze Leben meines Kindes in mein Auto, kam zu Hause an, stellte alles wie es war in den Schrank und weinte. Ich weinte, bis ich kaum noch Luft bekam ...


Den Rest des Tages krieg' ich nicht mehr zusammen …

Nun stand ich da: nur noch ein Bild, ein kleines Windlicht und einen Engel in der Hand


Einige Tage vergingen, bis ich wirklich fähig war, an den Ort zurück zu kehren, an dem mein Leben vor gefühlten Jahren eine drastische Wendung genommen hat. Wir fuhren zum Hospiz in Dudenhofen, um Motti nun auch einen Platz an der Gedenkmauer in Dudenhofen zu schaffen. Wie komisch es war … Es waren neue Familien zur Kurzzeitpflege da, wohnten in dem Zimmer, in dem Motti vor ein paar Tagen ihren letzten Atemzug machte. Ich bekam Gänsehaut. Noch vor ein paar Tagen schob ich Mottis Kinderwagen im Hospiz herum, wir aßen, während sie bei uns am Tisch saß, machten Ausflüge mit ihr in den Vogelpark und nun stand ich da: nur noch ein Bild, ein kleines Windlicht und einen Engel in der Hand.


Ich fühlte mich verloren, als hätte ich gerade einen Arm oder ein Bein amputiert bekommen. Mein Magen krampfte sich zusammen, als ich die Kinder sah, die gerade dort zu Besuch waren. Eine Schwester gab mir Mottis letzte Klamotten, die wohl noch in der Wäsche waren, als wir abreisten. Ich schaute in die Tasche und war fast enttäuscht, dass sie jetzt frisch gewaschen waren. Zu gern hätte ich mich mit einem getragenen Oberteil von ihr weinend ins Bett verkrochen. Ich musste schlucken, versuchte gegen die aufsteigenden Tränen in mir anzukämpfen, aber es ging nicht. Wie ein Tsunami überflute mich eine innerliche Welle. Die Tränen liefen. Ich wollte wieder weg – weg von diesem Ort, an dem wir die schönsten drei Wochen und die schlimmste Nacht unseres Lebens verbracht haben.


Da Motti nicht getauft war und wir nicht in der Kirche sind, hatten wir nun das Problem, dass wir niemanden für die Trauerfeier hatten, der ein paar Worte hätte sagen können. Die Mitarbeiter im Hospiz waren so nett und stellten uns einen Kontakt zu einer netten Frau (Dekanin oder Pastorin, ich weiß es leider nicht mehr) her, die für uns die Trauerrede übernehmen wollte. Wir waren ihr sehr dankbar dafür. Wir unterhielten uns und planten die Trauerfeier. Danach stellten wir das Bild, die Kerze und das Windlicht auf und gingen. 


Ich war erleichtert, diesen Ort verlassen zu dürfen.

Wir bedanken uns ganz herzlich bei Kerstin Nishen.


Sie schreibt mehr über sich und ihre Tochter in ihrem Blog „Mottis Mama“, zu lesen unter www.mottismama.wordpress.com

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Kommentare: 11
  • #11

    Tanja (Donnerstag, 12 November 2015 23:33)

    jeder Schicksalsschlag tut weh, leider mussten wir auch schon zwei Kinder gehen lassen. Doch mit deinen Worten könnte ich mich nicht zurückhalten, Traurigkeit unendliche ....

    Ich wünsche dir und allen Menschen die ein Kind verlieren mussten Kraft, Durchhaltevermögen und viel Liebe.

  • #10

    Anita Roth (Dienstag, 10 November 2015 14:09)

    Eure Geschichte hat mich sehr berüht.
    Ganz viel Licht und Liebe für euch.
    Und vielen Dank für deinen Mut, das alles so mit uns zu teilen.
    Von Herzen alles Liebe weiterhin.
    Anita

  • #9

    Gottschling (Dienstag, 10 November 2015)

    Was für ein süßer Engel <3 Die Gedanken drehn sich wie ein Karussel in meinem Kopf und dennoch kriege ich nichts auf die Tastatur.Habe auch am 2 Juni 2015 meinen Sohn ,26 J. verloren,durch einen tragischen Motorradunfall.Ich wünsche euch viel Kraft,mehr fällt mir nicht ein,was Sinn macht zu sagen.Eine liebe Umarmung sende ich euch.Ich kann euren Schmerz mitfühlen, Christiane

  • #8

    Thilo (Samstag, 07 November 2015 17:39)

    Hallo Kerstin,

    Du hast das leider viel zu kurze Leben deiner Motti beeindruckend beschrieben..
    Ich kann deinen Schmerz sehr sehr gut verstehen und nachempfinden..
    Auch meine Sohn ist dieser Jahr durch einen Verkehrsunfall verstorben..
    Es ist einfach unbeschreiblich ,wenn man das eigene Kind verliert..
    Verstehen kann das nur jemand die selbst ein Kind veloren haben..

    Ich wünsche Dir weiterhin sehr sehr viel Kraft und Lebenswille auch wenn es unsagbar schwer ist..

    Wir meinten ,wir sterben selbst nach dem Tod unseres Kindes..aber die Erde dreht sich weiter und wir drehen uns mit..
    Wir Alle werden den Tod unserer Kinder nie gar nie vergessen können und wollen..wir werden aber mit der Wunde leben müssen und unser Leben irgendwie wieder in den Griff bekommen..

    Ich wünsche Dir Alles alles Gute für die Zukunft..
    Liebe Grüße Thilo

  • #7

    Ramona (Freitag, 06 November 2015 10:52)

    Ich weiß gar nicht was ich schreiben soll :-(.
    Mir laufen die Tränen nur so über die Wangen.
    Ich kann es mir nicht Vorstellen, wie es ist sein Kind zu verlieren, aber ich habe selbst drei Kinder und schon alleine die Vorstellung daran :-(.
    Ich bewundere alle Sternenmamis, die es trotzdem schaffen so stark zu sein und das Beste aus ihrem Leben ohne das geliebte Kind machen.

    Bei solch traurigen Geschichten, schätzt man es umso mehr ein Gesundes Kind zu haben und man sollte jeden Tag aufs neue dafür Dankbar sein.

    Ich wünsche Euch weiterhin ganz viel Kraft und eurer Motti werde ich heute Abend ein Kerzlein mit ganz lieben Grüßen zu den Sternen anzünden <3.

  • #6

    Monique (Donnerstag, 05 November 2015 22:27)

    So ein wunderschönes Mädchen, es tut mir in der Seele weh das zu lesen... Ruhe in Frieden kleiner Engel <3

  • #5

    Anita (Donnerstag, 05 November 2015 06:44)

    Von Herzen alle Kraft der Welt - weiterhin!

  • #4

    Dirk (Donnerstag, 05 November 2015 01:04)

    Ich habe es nicht geschafft, die Geschichte ganz zu lesen, obwohl ich mich extra alleine zurückgezogen habe - zu nah sind die Analogien zu unserem Bärchen und zu tief sitzt der Schmerz, den sein Verlust in mir hinterlassen hat. Ich habe nur ganz einzelne Stellen lesen können ....
    Ich wollte auch schon über Jannik berichten, aber das schaffe ich noch viel weniger ... obwohl es schon über 2 Jahre her ist
    Ich wollte mich jetzt nicht einfach davon schleichen und habe daher die Zeilen hinterlassen.

    Traurige Grüße,
    Dirk

  • #3

    Andi (Donnerstag, 05 November 2015 00:00)

    Hallo Du!

    Hast Du sehr bewegend geschrieben.!!!!

    Liebe Grüße der Ösi^^

  • #2

    Mirjam (Mittwoch, 04 November 2015 21:53)

    Ich kann nichts schreiben, ich muss so weinen. Aber ich will es auch nicht unkommentiert lassen. Es tut mir so weh so etwas zu lesen. Ich kann nichts sagen, es ist einfach nur schlimm. Das Leben kann so ungerecht sein.... Alles Liebe...Mirjam

  • #1

    Anett (Mittwoch, 04 November 2015 18:44)

    Mir fehlen die Worte und die Tränen laufen. Mein aufrichtiges Beileid für die Familie. Motti hat eine tolle Familie und sie war wohl eine richtige Kämpferin.
    Ich schicke eine stille Umarmung!