17. November 2014


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Vom Verlieren und Verloren sein

von Martina Hosse-Dolega

(Zweiter Teil des Interviews zum Thema "Abschied")

 

So still.... So unfassbar... So unbegreiflich... 

Und genau in diesem Augenblick machte ich hautnah Bekanntschaft mit meiner Seele. Da, wo mein Geist, mein Körper nahezu handlungsunfähig wurde, übernahm meine Seele klar und mit erstaunlicher Zielstrebigkeit all jene Aufgaben, die es nun zu bewältigen galt. Wie von außen betrachtete ich "das Geschehen". Ähnlich wie ich mir das Leben in einer großen Seifenblase vorstelle, fühlte ich alles gedämpft, verlangsamt. Ich hatte offenbar die Kontrolle verloren... Über mein Denken, Fühlen und Handeln... Die Kontrolle über mich. Noch war mir diese Bedeutung nicht in vollem Umfang klar, doch ich hatte mich verloren... Die Person, die ich kannte, die mir vertraut war, deren Gefühle und deren Handeln für mich nachvollziehbar waren. Im Moment des Todes meiner Kinder starb zeitgleich die Person, die ich bis dahin war.

Doch viel schlimmer, viel unbegreiflicher war das, was meine Kinder erlebten. Wir, die Eltern - und sicherlich auch unsere Familien - waren sehr nahe davon berührt, zutiefst betroffen. Wir litten und weinten, wir waren Beteiligte dieses Erlebens, aber es waren unsere Kinder, die all das direkt durchlitten und durchlebten. Wir verloren nicht unsere Kinder - ich mag diesen Begriff nicht, drückt verloren für mich doch etwas völlig anderes aus: Was ich verliere kann ich suchen und wiederfinden  und alles ist gut -, unsere Kinder starben und nichts war gut oder würde je wieder gut werden. Das, zumindest das, war mir absolut klar. Wir nahmen Abschied. Von unseren Kindern. Von ihren Körpern, die wir nie wieder sehen würden. Wir hielten unsere Kinder im Arm, küssten sie und betrachteten sie mit unserer ganzen Liebe. Wie zauberhaft sie aussahen, wie zart - so vollkommen. Und auch nach dem Tod - erstmals ohne den Beatmungsschlauch - waren sie für uns die wunderbarsten und schönsten Kinder - unsere geliebten Söhne. Jede Einzelheit, jede Besonderheit versuchten wir uns einzuprägen, um sie nie wieder zu vergessen und unser Leben lang zu erinnern.


Unsere Familien kamen ins Krankenhaus - auch sie nahmen Abschied .Das Team des Perinatalzentrums gab uns Zeit, begleitete uns, schenkte uns in unserer Trauer Raum. Sie boten uns jegliche Unterstützung an. Wir hätten unsere Kinder nach dem Tod waschen und anziehen dürfen - wir entschieden uns dagegen. Ich hatte zu große Angst. Wovor? Ich weiß es nicht genau. Vielleicht davor, es nicht ertragen zu können. Vielleicht aus Angst vor dieser Klarheit, dass meine Kinder wirklich tot sind. Vielleicht auch aus Angst vor den Gefühlen, die mich überfallen könnten. Sicherlich auch aus Angst vor dem Tod. Davor, dass ich dem Tod begegnen würde. Ich wollte das nicht. Ich wollte die Realität nicht Realität werden lassen. Ich wollte und konnte den Tod meiner Kinder -  bei jedem Sterben - nicht wahrhaben. 


Ich bin sehr dankbar, dass die wundervollen Schwestern der Intensivstation sich um unsere Söhne Nico, Robin und Joshua sorgten und kümmerten - auch nach deren Tod. Ich bin dankbar für die ganzen positiven Erinnerungen, die diese Schwestern und Ärzte uns schenkten und die mich auch heute noch begleiten. Wir machten Fotos unserer Kinder. Auch diese sind - noch heute - von unschätzbarem Wert. Sie bezeugen, dass es unsere Kinder wirklich gab. Auch der Fußabdruck unseres Sohnes Joshua auf einem Stern ist so wertvoll. Unsere Erinnerung ist dadurch so greifbar, so begreifbar - so real. Sie wird dadurch zu einem Teil unseres Lebens. Diese Erinnerung macht unsere Kinder auch jetzt noch sichtbar. Genauso verhält es sich auch mit den Socken, dem Mützchen, welches die Schwestern zu Weihnachten für alle Kinder der Station liebevoll gefertigt hatten (und mit denen sie uns Eltern ein Lächeln ins Gesicht zauberten und Erinnerungen schenkten) sowie dem kleinen Jäckchen, welches wir mit nach Hause nahmen. 

Ganz anders als das wundervolle Team des Perinatalzentrums erlebte ich die Seelsorgerin. Sie betrat mein Zimmer mit den Worten, die ich auch nach 20 Jahren noch genauestens erinnere und die mich immer noch tief verletzen und wütend machen: „Ach, ihr Sohn ist ja heute gestorben... Ja, der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen...“ Ich weiß auch heute noch nicht, ob sie Hiobs Aussage wirklich fortgeführt hätte, wenn sie die Zeit dazu gehabt hätte. Denn dann hätte ich auch noch die Worte gehört "Der Name des Herrn sei gelobt!" Und obwohl diese Seelsorgerin diese Worte nie sagte, überdauert diese Aussage als schlechte Erinnerung alle Jahre. Das Wort Seelsorgerin traf nicht zu, denn ich hatte zu dieser Zeit nicht das Gefühl, dass sie sich um meine Seele sorgte, Mitgefühl zeigte oder mich unterstützen wollte. 


Der Bestatter war irgendwie nicht präsent. Ich erlebte ihn als jemand, der nur „seinen Job macht“. Ich hatte nicht das Gefühl einer einfühlsamen Begleitung in dieser schwierigen Lebensphase. Es gab kaum etwas auszusuchen – bis auf die Blumen. Wir hatten nicht die Möglichkeit, unseren Abschied individuell zu gestalten. Nein, ich muss es anders formulieren: Wir wussten nicht, dass man Abschiede gestalten kann. Es gab keinerlei Information oder Anregungen darüber. Ich glaube mich zu erinnern dass es keinerlei Fragen seitens des Bestatters gab. Nein, es war nicht schlecht - es war "nur" nicht individuell und es war auch nicht "gut". Das weiß ich heute - damals wusste ich es nicht. 


Sehr berührt hat mich die Begrüßung unseres Nachbarkindes, die vom Tod unseres Sohnes noch nichts erfahren hatte. Aber mit ihren 6 Jahren reagierte sie so klar, so liebevoll, offen und mitfühlend, dass ich auch jetzt noch von dieser Erinnerung berührt werde. Organisatorisch klärte sie "mal eben" das Wesentliche ab und bemerkte anschließend: "Ab jetzt muss in meinem Zimmer aber immer das Rollo oben bleiben, damit ich euren Kindern jeden Abend 'Gute Nacht' sagen kann und sie auch immer sehen kann... Denn jetzt sind Nico, Robin und Joshua ja wohl Sterne." Ein tröstender Gedanke von einem kleinen bezaubernden Mädchen, die den Kontakt zu uns nicht scheute und uns unterstützend zur Seite stand. Ich liebe sie dafür. 


Die erste Zeit in unserem Zuhause - nach dem Tod - war schrecklich leer, einsam. Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Ich konnte mich nicht konzentrieren, meine Gedanken nicht sammeln. Kraft, Energie fehlte - alle Energiereserven hatte ich im Krankenhaus verbraucht. Schlaf fand ich nicht, Essen war unwichtig - vermutlich würde ich bis zu meinem Lebensende "einfach nur" liegen, denn zur Bewegung fehlte mir die Kraft, der Antrieb. Der Grund: Mir fehlte der Lebenssinn. Das Atmen funktionierte nicht mehr automatisch, so wie vorher. Ich konnte einatmen - aber irgendwie nicht ausatmen. Husten wurde mein ständiger Begleiter, um danach Luft einatmen zu können. Ich hatte seelische und körperliche Schmerzen. Ich brauchte Ruhe - nichts als Ruhe. Der Tod nahm mir meine Kinder, ich verlor mich und meine Orientierung. Ich verlor die Gegenwart und die Zukunft.

Wir danken Martina Hosse-Dolega für diesen Erfahrungsbericht im Rahmen unserer Interviews zum Thema "Abschied" während der Aktion Lichtpunkt 2014. 

Sie arbeitet mittlerweile in einem engagierten Bestattungshaus, das ihr den nötigen Raum für die sinnvolle Begleitung der Trauernden zur Verfügung stellt. Darüber hinaus ist sie als Trauerbegleiterin und Entspannungs- & Gesundheitspädagogin sowie als Präventionsberaterin aktiv. Ihre Webseite ist derzeit im Aufbau. Sie können aber über uns oder per Mail direkt mit Ihr Kontakt aufnehmen.

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